Grundsätze des Kurdischen Nationalrats in Syrien (KNR) für die anstehenden Verhandlungen in Genf

Im Zuge der Genfer Verhandlungen, unterbreitete Staffan de Mistura, UN Sondergesandter für Syrien, im März diesen Jahres eine Agenda für die kommenden Gespräche, die vorsieht, relevante Themengebiete in vier Baskets zu erarbeiten.
In Vorbereitung auf die Fortsetzung der Gespräche, hat der Kurdische Nationalrat in Syrien (KNR) eigene Grundsätze für die Arbeit der Baskets wie folgt verfasst und eingereicht:

Zu der Agenda des Sondergesandten der UN, Staffan de Mistura, für die nächste Verhandlungsrunde in Genf erlauben wir uns, wie folgt Stellung zu nehmen:

Allgemeine Bemerkungen

Verhandelt werden sollen vier Themen in insgesamt vier Baskets – Übergangsregierung, Verfassung, Wahlen sowie Anti-Terror/Sicherheit/Vertrauensbildung. Da die Verhandlungen jederzeit auch parallel stattfinden können und um die Expertise des KNR zu den verschiedenen Themen einbringen zu können, ist es unerlässlich, dass der KNR für alle Basketverhandlungen, mindestens einen Repräsentanten entsenden kann. Dies muss selbstverständlich auch für alle Unterkommissionen/Arbeitsgruppen innerhalb der Baskets gelten. Zu dieser Regelung gibt es keine Alternativen: Ohne eine solche Repräsentation ist nicht gewährleistet, dass die Interessen der kurdischen Bevölkerung – immerhin etwa 15 Prozent der syrischen Gesamtbevölkerung – in den Verhandlungen vertreten werden. Bislang – das zeigt unter anderem das von Staffan de Mistura verfasste Non-Paper – ist die „kurdische Frage“ kein zentrales Thema in den Verhandlungen gewesen. Ein solches muss sie aber werden, um in Syrien sowohl eine dauerhafte Friedenslösung zu finden, als auch die territoriale Integrität des Landes zu wahren, welcher der Kurdische Nationalrat verpflichtet ist.

Basket 1 (Übergangsregierung)

  • Die Aufgaben der Übergangsregierung sowie ihre maximale Amtszeit sind vor ihrer Einrichtung zu definieren. Der KNR spricht sich für eine maximale Amtszeit von 24 Monaten aus. Sollte die Übergangsregierung ihre vordringlichste Aufgabe – die Vorbereitung freier, gleicher und geheimer Wahlen – bis dahin nicht umgesetzt haben, muss sie als gescheitert gelten.

  • Neben der Vorbereitung von Wahlen sieht der Kurdische Nationalrat den Aufbau eines unabhängigen Justizsystems und die Schaffung von Institutionen zur Aufarbeitung von Kriegsverbrechen als zentrale Aufgabe der Übergangsregierung an. In allen drei Bereichen sollte die Übergangsregierung verpflichtet sein, mit internationalen Organisationen zusammenzuarbeiten. Vor allem die Vereinten Nationen, aber auch die OSZE (im Bereich Wahlen), sowie der Internationale Strafgerichtshof (zur Verfolgung von Kriegsverbrechern) sollten eng mit der Übergangsregierung zusammenarbeiten. So kann sichergestellt werden, dass der Transitionsprozess internationalen Standards entspricht.

  • Der KNR als Vertreter der kurdischen Bevölkerung repräsentiert ca. 15 Prozent der syrischen Bevölkerung. Entsprechend diesem Prozentsatz sind Vertreter des KNR an der Übergangsregierung zu beteiligen.

  • In zentralen Fragen wie dem Wahlsystem, bei der Ernennung der Mitglieder der Wahlkommission, der Reform des Justizwesens und den Diskussionen über eine Verfassung müssen die Vertreter der kurdischen Bevölkerungsgruppe in der Übergangsregierung ein Vetorecht haben, um kurdische Interessen zu wahren. Um sicherzustellen, dass Lösungen gefunden werden, die die Interessen aller Bevölkerungsgruppen in Syrien widerspiegeln, sollte dieses Vetorecht auch den Vertretern der anderen ethnischen / religiösen Gruppen in der Übergangsregierung zugestanden werden.

  • Neben den oben erwähnten Themen erwarten wir, dass die Übergangsregierung sich auch mit dem Thema Security Sector Reform beschäftigt. Es muss sichergestellt werden, dass alle militärischen Truppen einem zivilen Kommando unterstehen, und es müssen Pläne erstellt werden, um Frieden und Sicherheit in ganz Syrien herzustellen. Dabei sollte die Übergangsregierung eng mit der UN sowie anderen Organisationen zusammenarbeiten, die Erfahrung im Bereich Security Sector Reform haben.

  • Weiterhin muss die Übergangsregierung sicherstellen, dass das gesellschaftliche Leben in Syrien wieder funktioniert, und einen ersten Plan für den Wiederaufbau des Landes entwickeln. Daher setzt sich der KNR dafür ein, dass eine Kommission zum Wiederaufbau geschaffen wird, die zu 50% aus syrischen Vertretern (inklusive Vertretern des KNRs) besteht, und zu 50% aus Vertretern der wichtigsten Geberländer. Aufgabe dieser Kommission ist es, innerhalb von 6 Monaten einen Plan zu erarbeiten, der den Wiederaufbau des Landes detailliert beschreibt und sicherstellt, dass die Gelder der Geberländer effektiv verteilt werden, und alle Teile des Landes (je nach Bedarf) von diesen Geldern profitieren. Entscheidungen über Geldzuweisungen sollten von dieser Kommission mit 2/3 Mehrheit getroffen werden.

Basket 2 (Verfassung)

  • Um ein demokratisches Syrien zu schaffen, in dem alle Bevölkerungsgruppen ihre politischen, sozialen und kulturellen Partizipationsrechte genießen, müssen in der Verfassung weitreichende Prinzipien zur Aufteilung von Macht getroffen werden. Die Aufteilung von Kompetenzen zwischen lokaler, regionaler und zentraler Ebene ist hierfür ein geeignetes Instrument. Daher muss im Rahmen der Verfassungsdiskussion eine Kommission eingerichtet werden, die darüber diskutiert, welche Form der Dezentralisierung für Syrien geeignet ist. Unter anderem ist hier auch die föderale Option, für die der KNR sich ausspricht, zu diskutieren.

  • Starke Institutionen, insbesondere unabhängige Gerichte, sind eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass die Aufteilung von Macht tatsächlich gelingt. Der Kurdische Nationalrat fordert daher die Verankerung einer unabhängigen und starken Gerichtsbarkeit in der Verfassung, insbesondere auch die Schaffung eines unabhängigen Verfassungsgerichts, in dem Vertreter aller ethnischen und religiösen Gruppen repräsentiert sind.

  • Der Kurdische Nationalrat spricht sich für die Etablierung eines Zwei-Kammern-Systems aus, wobei die zweite Kammer aus Vertretern der Provinzen / Regionen / Föderalstaaten zusammengesetzt sein soll. Die Einrichtung beider Kammern muss in der Verfassung geregelt werden.

  • In allen Verfassungsfragen, welche die Themen Kultur, Sprache, Bildung, Dezentralisierung und Minderheitenrechte betreffen, ist dem Kurdischen Nationalrat ein Vetorecht einzuräumen. Dies muss bei der Entscheidungsfindung in sämtlichen Arbeitsgruppen und Unterkommissionen gelten. Das Vetorecht in Sachen Minderheitenrechte ist unabhängig davon zu gewähren, dass die Kurden sich als eigenständige Nation, nicht als Minderheit definieren. Dem Kurdischen Nationalrat ist klar, dass die Verankerung der UN-verbrieften Minderheitenrechte (UN Declaration on the Rights of Persons Belonging to National or Ethnic, Religious and Linguistic Minorities) eine Grundvoraussetzung dafür ist, staatlicher ethnischer Diskriminierung die Grundlage zu entziehen. Ein Vetorecht in den genannten Gebieten ist auch anderen Gruppen, so etwa den Assyrern, einzuräumen. Gemeinsam müssen Kurden, Assyrer und eventuelle weitere Gruppen über ein absolutes Veto bei den genannten Themen verfügen.

  • Die Kurden sind als eigenständige Nation, neben den Arabern, in der Verfassung anzuerkennen. Syrien ist als multinationaler Staat zu beschreiben, um die religiöse, ethnische und nationale Vielfalt des Landes widerzuspiegeln und sicherzustellen, dass es in Zukunft nicht erneut zur Diskriminierung von ethnischen und nationalen Gruppen kommt.

  • Sofern die Verfassung über ein Verfassungsreferendum angenommen werden soll, ist zu gewährleisten, dass sämtliche in der Diaspora lebenden Syrer an der Abstimmung teilnehmen können. Zudem muss vor der Abstimmung ein Bevölkerungszensus stattfinden, im Anschluss an den festgelegt wird, wer das Recht hat abzustimmen. Dieser Zensus sollte aus Gründen der Expertise und der Finanzierbarkeit von der internationalen Gemeinschaft organisiert und durchgeführt werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der Zensus auch jene Teile der Bevölkerung berücksichtigt, die in der Vergangenheit politisch ausgeschlossen wurden (z.B. durch Entzug der Staatsbürgerschaft). Weiterhin ist sicherzustellen, dass die neue syrische Verfassung die Mehrheit in allen syrischen Gebieten hat, inklusive jener mit einer kurdischen Mehrheit. Dafür sind vor dem Verfassungsreferendum neue Provinzgrenzen festzulegen, die den Kurden ihr eigenes Territorium (mit einer kurdischen Mehrheit) geben. Es ist wichtig, dass die kurdische Bevölkerung der Verfassung zustimmt, und dass sichergestellt wird, dass ihre Stimmen zählen und Einfluss haben, um die neuen demokratischen Strukturen zu legitimieren und den Frieden und territoriale Einheit in Syrien langfristig zu sichern. Sofern die Annahme über eine verfassungsgebende Versammlung erfolgt, ist sicherzustellen, dass Kurden in dieser Versammlung mit mindestens 15 Prozent der Stimmen vertreten sind. Jede Entscheidung dieser Versammlung bedarf einer doppelten Mehrheit, sowohl der Mehrheit der Mitglieder der Versammlung insgesamt, als auch eine Mehrheit der jeweiligen Vertreter der verschiedenen nationalen Gruppen. Es ist sicherzustellen, dass neben der Mehrheit der Araber auch die Mehrheit der Kurden, Assyrer und ggf. anderer (z. B. religiös definierter) Gruppen der Verfassung zustimmen müssen.

Basket 3 (Wahlen)

  • In den Basketverhandlungen ist zunächst zu klären, welche Wahlen innerhalb der kommenden 18 Monate in Syrien zu organisieren sind. Neben den gesamtstaatlichen Parlamentswahlen sind mindestens auf Provinzebene / der Ebene der Regionen / der Ebene der Föderalstaaten Wahlen durchzuführen. Zudem ist ein Zeitrahmen festzulegen, innerhalb dessen auf der regionalen Ebene gewählt werden soll – der Kurdische Nationalrat spricht sich für einen Zeitrahmen von maximal 12 Monaten nach Durchführung der Parlaments- und Regionalwahlen aus.

  • Es sollte eine unabhängige Wahlkommission etabliert werden, die an einem Wahlgesetz arbeitet und bestimmt, welche Parteien zur Wahl zugelassen werden. Insbesondere ist die Zulassung ethnischer Parteien zu gewährleisten. Die Wahlkommission sollte sowohl die ethnische Vielfalt in Syrien widerspiegeln als auch zu mindestens einem Drittel aus internationalen Experten bestehen, die von der UN ernannt werden. Entscheidungen der Wahlkommission sollten mit einer Drei-Viertel-Mehrheit getroffen werden.

  • Bezüglich der Durchführung eines Bevölkerungszensus und der Festlegung neuer Provinzen (Föderalstaaten / Regionen) im Vorfeld der Wahlen gilt dasselbe wie weiter oben für den Fall eines Verfassungsreferendums definiert.

  • An sämtlichen Wahlen muss auch die Bevölkerung in der Diaspora teilnehmen dürfen.

  • Es bedarf einer genauen Abwägung, welcher Wahlmodus für die einzelnen Wahlen heranzuziehen ist. Insbesondere ist davon abzusehen, Parteien und/oder Kandidaten durch einfaches Mehrheitswahlrecht zu bestimmen. Abhängig vom Zuschnitt der Wahlkreise wäre auf Basis des einfachen Mehrheitswahlrechts beispielsweise ein kompletter Ausschluss der kurdischen Bevölkerungsgruppe bei den Wahlen zur ersten Kammer des syrischen Parlaments möglich. Der KNR fordert daher ein proportionales Wahlsystem, denn ein solches kann am ehesten die politischen, ethnischen, nationalen und religiösen Unterschiede in Syrien widerspiegeln. Das Wahlsystem sollte von der Wahlkommission vorgeschlagen und von der Übergangsregierung einstimmig angenommen werden, um sicherzustellen, dass alle in der Übergangsregierung vertretenden Gruppen mit dem Wahlsystem einverstanden sind, und um für die ersten Nachkriegswahlen weitreichende Legitimität herzustellen.

Basket 4 (Anti-Terror, Sicherheit, Vertrauensbildung)

  • Die kurdischen Gebiete Syriens werden derzeit von den Volksverteidigungseinheiten (YPG) der Partei der Demokratischen Union (PYD), dem syrischen Ableger der PKK, beherrscht. Zahlreiche Kämpfer der YPG sind türkische oder iranische Staatsangehörige und fallen somit in die Kategorie der ausländischen Kämpfer. Sie müssen, wie alle anderen ausländischen Kämpfer, baldmöglichst Syrien verlassen.

  • Der Kurdische Nationalrat spricht sich für die Schaffung einer Demilitarisierungskommission unter Schirmherrschaft der UN aus, in der Vertreter aller militärischen Gruppen in Syrien vertreten sind. Dies schließt die Roj-Peschmerga ein, syrische Kämpfer, die dem Kurdischen Nationalrat unterstehen. Diese müssen gemäß ihrer Stärke in einem solchen Gremium vertreten sein. Gegebenenfalls ist die Demilitarisierung der verschiedenen Gruppen durch UN-Blauhelme abzusichern.

  • Es sind geeignete Institutionen und Mechanismen zu schaffen, um Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen während des Krieges zu dokumentieren, strafrechtlich zu verfolgen bzw., wo möglich, einen Ausgleich zwischen Tätern und Opfern jenseits des Strafrechts zu finden.