Istanbul-Paper III – Eckpunkte einer syrischen Verfassung

Während des vierten Dialogworkshops arbeiteten die Mitglieder verschiedener Gruppen der syrischen Opposition in Istanbul vier Tage lang intensiv an den Eckpunkten einer zukünftigen Verfassung für Syrien. Ihre Diskussion beruhte dabei auf dem Istanbul-Paper II, das in 23 Punkten die Ergebnisse des Workshops vom Mai 2017 zusammenfasst. Die Anwesenden arbeiteten sich durch sieben Themenblöcke und gingen mehr und mehr ins Detail. Dementsprechend wurden die vorherigen Punkte adaptiert und ergänzt. Am Ende konnten sich die Teilnehmenden auf 31 Punkte einigen, welche im Istanbul-Paper III festgehalten werden:

Istanbul-Paper III: 

  1. Syrien ist ein demokratischer Staat. Alle Staatsgewalt beruht auf dem Willen des Volks und wird zum Wohl der Bevölkerung ausgeübt.
  2. Syrien ist ein Rechtsstaat, der die Grundsätze der Gewaltenteilung achtet. Das Recht ist die Grundlage und Schranke aller Staatsgewalt.
  3. Syrien ist ein Bundesstaat, der die Macht und die Ressourcen zwischen der nationalen, der regionalen und der kommunalen Ebene teilt.
  4. Syrien achtet, schützt und fördert die Vielfalt seiner Bevölkerung. Alle ethnischen, religiösen und sprachlichen Gruppen gehören zur Identität Syriens und sind als Bestandteile der syrischen Gesellschaft anerkannt. Alle Gruppen, ob groß oder klein, haben Anspruch auf gleiche Achtung und gleichen Schutz ihrer Rechte, auf Bewahrung und Förderung ihrer kulturellen Identität und auf gleichberechtigte Mitwirkung im Staat.
  5. Bei der Bestimmung des Namens, der Flagge, der Hymne und weiterer Kennzeichen des syrischen Staats ist der Vielfalt seiner Bevölkerung angemessen Rechnung zu tragen.
  6. Syrien achtet, schützt und verwirklicht die international anerkannten Menschen- und Minderheitenrechte. Handlungen und Äußerungen, die sich gegen die Grundprinzipien der Verfassung richten, oder zu Hass und Gewalt aufrufen, sind verboten.
  7. Die territoriale Integrität Syriens ist gewährleistet.
  8. Alle Ebenen des syrischen Staats garantieren die gleichberechtigte Teilhabe aller Gruppen am Staat und seiner Institutionen und sorgen für politische, wirtschaftliche und soziale Chancengleichheit unter allen Bürgerinnen und Bürgern. Die Behörden aller staatlichen Ebenen sind inklusiv und repräsentieren alle Gruppen gemäß ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung. Eine Übervertretung, sehr kleiner und verstreut lebender Gruppen, ist zulässig.
  9. Auf nationaler Ebene sind folgende Sprachen als gleichwertige Amtssprachen anerkannt: Arabisch, Kurdisch, Turkmenisch, Assyrisch. Auf die Bedürfnisse anderer Sprachgruppen wird Rücksicht genommen. Mindestens eine Nationalsprache muss in jeder Region als Amtssprache anerkannt sein. Die Regionen können eine oder mehrere zusätzliche Sprachen als Amtssprachen bestimmen.
  10. Syrien garantiert die gleichen Rechte und Pflichten für Frauen und Männer und sorgt für die angemessene Vertretung und Mitbestimmung der Frauen in allen Institutionen des syrischen Staats. In allen Institutionen des Bundes, der Regionen und Kommunen sind Frauen mit mindestens 30% vertreten.
  11. Syrien ist ein zivil-demokratischer Bürgerstaat, der auf der Trennung von Staat und Religion beruht. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit aller wird durch die nationale Verfassung geachtet und geschützt. Der Staat begegnet allen religiösen Gruppen mit Respekt; er erkennt verfassungsrechtlich auch die Religion der Jesiden an.
  12. Syrien hat ein Verfassungsgericht, das die Menschenrechte, die Rechte aller ethnischen, religiösen und sprachlichen Gruppen, die Verteilung der Macht und der Ressourcen überwacht sowie alle Werte der Verfassung schützt. Die Verfassung legt die Zahl der Richter, ihre Amtszeit und die Voraussetzungen für ihre Wählbarkeit fest. Die Richterinnen und Richter werden von der zweiten Kammer mit Zweidrittelmehrheit gewählt. Die Wahl wird von einer unabhängigen Wahlkommission vorbereitet, die Vorschläge des Präsidenten, der ersten Kammer, der Regionen, der ethnischen, religiösen und sprachlichen Gruppen, der Parteien und der unteren Gerichte entgegennimmt. Bei der Vorbereitung der Wahl und bei der Wahl ist sicherzustellen, dass die verschiedenen Regionen Syriens und die ethnischen, sprachlichen und religiösen Gruppen angemessen vertreten sind. Mindestens ein Verfassungsrichter muss arabischer, kurdischer, turkmenischer und assyrischer Muttersprache sein. Liegt ein Gesetzesentwurf oder ein anderer Erlass des Parlaments vor, so kann ein Viertel der Mitglieder der ersten Kammer, ein Viertel der Mitglieder der zweiten Kammer, der Präsident oder die Präsidentin oder zwei Regionen das Verfassungsgericht anrufen, das innerhalb einer bestimmten Frist über die Verfassungsmässigkeit des Entwurfs entscheidet. Regionen, Kommunen und andere staatliche Akteure sowie natürliche und juristische Personen, die eine Verletzung der Verfassung geltend machen, können sich mit Beschwerde an das Verfassungsgericht wenden. Die Beschwerde kann sich gegen jedes staatliche Handeln oder Unterlassen richten. Das Verfassungsgericht hebt Gesetze und Entscheide auf, die die Verfassung verletzen; im Falle eines Notstands überprüft es die Einhaltung des Notstandsrechts. Das Verfassungsgericht entscheidet zügig. Es nimmt eine Vorprüfung vor, die sicherstellt, dass dringliche Verfahren mit der erforderlichen Dringlichkeit behandelt und missbräuchliche Verfahren zurückgewiesen werden. Verzögern Vorinstanzen das Verfahren auf ungebührliche Weise, so kann sich der Beschwerdeführer direkt an das Verfassungsgericht wenden. Das Verfassungsgericht verfügt über personelle und institutionelle Unabhängigkeit und über eine finanzielle Ausstattung, die ihm ein effizientes Funktionieren ermöglicht.
  13. Eine unabhängige Wahlkommission plant, organisiert und überwacht die Durchführung der Wahlen. Der Präsident oder die Präsidentin Syriens wird direkt gewählt. Er oder sie ist gewählt, wenn er oder sie die Mehrheit der Stimmen der gesamten Bevölkerung und die Zustimmung der Mehrheit der Regionen erlangt. Die Funktion des Präsidenten oder der Präsidentin ist vorwiegend repräsentativer und zeremonieller Natur. Der Präsident oder die Präsidentin ernennt ein Mitglied des Parlaments zum Premierminister oder zur Premierministerin, der oder die das Amt antritt, wenn das Parlament mit einer Zweidrittelmehrheit das Vertrauen ausspricht. Der Premierminister bildet das Kabinett; es bedarf der Zustimmung des Parlaments.
  14. Das syrische Parlament besteht aus zwei Kammern. In der ersten Kammer sind alle Gruppen nach ihrer demographischen Stärke vertreten. Die Vertreterinnen und Vertreter werden direkt gewählt. In der zweiten Kammer sind alle Regionen mit gleicher Stimmzahl vertreten. Die Regionen entscheiden darüber, wie ihre Vertretung bestellt wird. Das Wahlverfahren in den Regionen stellt sicher, dass alle ethnischen, religiösen und sprachlichen Gruppen angemessen vertreten sind. Die assyrische und die jesidische Gemeinschaft sowie weitere sehr kleine und verstreut lebende Gruppen haben zusätzlich Anspruch auf einen Vertreter in der zweiten Kammer. Entscheide, die die Zuständigkeiten der Regionen betreffen sowie Projekte, die im gesamtsyrischen Interesse liegen, bedürfen der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder der zweiten Kammer.
  15. Die nationale Ebene ist nur für jene Bereiche zuständig, die die Verfassung ihrer Zuständigkeit zuweist. Dazu gehören namentlich:
    1. das Militär und die Verteidigung
    2. die Währung
    3. die Staatsbürgerschaft
    4. die politischen Außenbeziehungen
    5. das Strafrecht
    6. das Sachenrecht, das Vertrags- und Handelsrecht, das Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, das Banken- und Börsenrecht
    7. die Planung und Durchführung von Projekten, die im gesamtsyrischen Interesse liegen; sie arbeitet dabei eng mit den Regionen zusammen, die von dem Projekt besonders betroffen sind und nimmt auf deren Interessen Rücksicht.
  16. Die übrigen staatlichen Aufgaben fallen in die Zuständigkeit der Regionen. Dazu gehören insbesondere das Bildungswesen, die Gesundheitsversorgung, die Polizei, das Personen- und Familien- und Erbrecht, die Planung und Durchführung der regionalen Infrastruktur und Entwicklung und die Kultur. Sie schützen die Umwelt und die Kulturgüter und verwirklichen die völkerrechtlichen Pflichten Syriens.
  17. Die Regionen sind für das Bildungswesen zuständig und betreiben selbständig Schulen und Universitäten. Sie anerkennen das Recht von ethnischen, religiösen und sprachlichen Gruppen auf selbstbestimmte Schulbildung und achten und schützen die Autonomie der Universitäten. Sie bewilligen und beaufsichtigen private Bildungseinrichtungen. Die Regionen gestalten das Bildungswesen und legen die Lehrpläne fest im Einklang mit der internationalen Kinderrechtskonvention und anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen Syriens. Um die gegenseitige Anerkennung der Bildungsabschlüsse zu erleichtern, koordinieren die Regionen die Bildungsstufen und allgemeine Bildungsziele. Die nationale Ebene kann die universitäre Lehre und Forschung unterstützen und die internationale Zusammenarbeit koordinieren; sie respektiert dabei die Zuständigkeit der Regionen und die Autonomie der Universitäten.
  18. Die Regionen sind zuständig für die Polizei. Die nationale Ebene verfügt über eine Bundespolizei, die die nationale Verfassung schützt und die internationale Polizeizusammenarbeit gewährleistet.
  19. Die politischen Außenbeziehungen sind die ausschließliche Zuständigkeit des Bundes. Syrien achtet das Völkerrecht und pflegt friedliche Beziehungen zu seinen Nachbarn und zur internationalen Gemeinschaft.
  20. Zur Erfüllung ihrer Aufgaben und im Rahmen ihrer Zuständigkeiten können Regionen mit anderen Regionen und internationalen Akteuren zusammenarbeiten und zu diesem Zweck Verträge abschließen. Sie sind verpflichtet, die nationale Ebene über diese Aktivitäten zu informieren. Ist eine Region oder die Mehrheit der ersten Kammer der Auffassung, dass die Zusammenarbeit die Verfassung verletzt oder gesamtsyrischen Interessen schadet, so kann sie die zweite Kammer anrufen. Diese entscheidet mit Zweidrittelmehrheit über die Zulässigkeit der Zusammenarbeit.
  21. Das Militär, die Sicherheitsbehörden und die Polizei stehen unter ziviler Kontrolle und sind dem nationalen Parlament bzw. den regionalen Parlamenten gegenüber rechenschaftspflichtig. Der Geheimdienst untersteht der Aufsicht einer parlamentarischen Kommission.
  22. Die nationale und regionale Ebene sorgen gemeinsam für einen möglichst hohen Standard an sozialer Sicherheit. Die nationale Ebene regelt die Alters- und Hinterbliebenen-, die Kranken- und Unfall- sowie die Arbeitslosenversicherung. Die regionale Ebene vollzieht diese Regelung. Ein angemessener Anteil aus dem Einkommen aus den natürlichen Ressourcen steht für die soziale Sicherheit zur Verfügung und ergänzt das Einkommen aus Prämien. Jede Person, die in Not gerät, hat Anspruch auf staatliche Hilfe und Betreuung.
  23. Die nationale und regionale Ebene stellen die Versorgung der Bevölkerung mit Wasser, Energie und Kommunikationsmitteln sicher.
  24. Jede Region hat ihre eigene Verfassung und ihre eigenen Behörden. Die regionalen Verfassungen sowie die regionalen Gesetze dürfen dem übergeordneten Landes- und Völkerrecht nicht widersprechen.
  25. Die Grenzen der Regionen werden neu gezogen. Eine Kommission, die aus in- und ausländischen Experten zusammengesetzt ist, erarbeitet unter der Leitung der UNO Vorschläge zur Neuziehung der Grenzen. Sie trägt dabei ethnischen, religiösen und sprachlichen Kriterien Rechnung und führt Konsultationen durch. Gestützt auf die Vorschläge der Kommission finden die ersten Parlamentswahlen für beide Kammern und Präsidentschaftswahlen statt. Die zweite Kammer setzt aus ihrer Mitte eine Grenzkommission ein, in der alle ethnischen, sprachlichen und religiösen Gruppen vertreten sind. Die Grenzkommission nimmt Anträge zur Veränderung der Regionalgrenzen entgegen, konsultiert die in- und ausländischen Experten und erarbeitet Vorschläge zu Händen der zweiten Kammer. Die vorgeschlagenen Grenzänderungen treten in Kraft, wenn sie in der zweiten Kammer von allen anwesenden Mitgliedern angenommen werden. Kommt in der zweiten Kammer kein Konsens zustande, so finden in den betroffenen Gebieten Referenden statt. Die Grenzkommission plant und überwacht die Durchführung der Referenden und kann die UNO mit der Überwachung betrauen.
  26. Ethnische, religiöse und sprachliche Gruppen genießen unabhängig von ihrem Aufenthaltsort das Recht auf kulturelle Selbstbestimmung, namentlich das Recht auf selbstbestimmte Schulbildung, Ausübung der Religion und Pflege der Kultur. Sie können zu diesem Zweck Institutionen gründen, die die grenzüberschreitende Zusammenarbeit sicherstellen.
  27. Die Regionen anerkennen die Rechte aller Gruppen auf kommunale Selbstverwaltung. Die Grenzen der Kommunen werden bei Bedarf neu gezogen. Dabei wird ethnischen, religiösen und sprachlichen Kriterien Rechnung getragen.
  28. Die nationale Ebene ist zuständig für die Zölle, die Mehrwertsteuer und die besonderen Verbrauchssteuern. Die Regionen erheben direkte Steuern auf dem Einkommen natürlicher und auf dem Reinertrag juristischer Personen. Die natürlichen Ressourcen gehören den Regionen und dem gesamten Syrien; die Regionen verwalten sie im Interesse des gesamten Staats. Das Einkommen aus den natürlichen Ressourcen dient der Deckung der Bedürfnisse aller Regionen. Die Region, in der sich die natürliche Ressource befindet, hat Anspruch auf einen angemessen Anteil des Einkommens aus der Ressource. Der Finanzausgleich zwischen der nationalen und der regionalen Ebene sowie zwischen den Regionen stellt sicher, dass alle staatlichen Gemeinschaften über die Finanzmittel verfügen, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben brauchen. Für den Ausgleich sind folgenden Kriterien maßgebend: Bevölkerungszahl, Bedürfnisse nach Sozialleistungen, wirtschaftlicher Entwicklungsstand, Bedürfnis nach Wiederaufbau und Ausgleich für vergangenes Unrecht. Eine unabhängige Finanzkommission wacht über die staatlichen Finanzmittel und erarbeitet jährlich zu Händen des Parlaments Vorschläge zu den Finanzausgleichszahlungen. Die Kommission setzt sich aus unabhängigen Experten für öffentliche Finanzen zusammen und wird von beiden Kammern des Parlaments bestellt.
  29. Alle Ebenen des Staates sind zur Information, zur loyalen Zusammenarbeit und zur friedlichen Beilegung von Konflikten verpflichtet.
  30. Eine unabhängige Kommission erarbeitet zu Händen des Parlaments Vorschläge für die Transitionsgerechtigkeit und sorgt dafür, dass die Verbrechen der Vergangenheit geahndet werden.
  31. Der Prozess der Verfassungsgebung hat sich an den hier festgelegten Prinzipien auszurichten und den berechtigen Interessen aller ethnischen, religiösen und sprachlichen Gruppen Rechnung zu tragen. Der Anspruch aller Komponenten Syriens auf gleichberechtigte Mitwirkung im Staat gilt auch für den Prozess der Verfassungsgebung. Die folgenden Verfassungsprinzipien dürfen nicht eingeschränkt oder aufgehoben werden: die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte, die Rechte der ethnischen, religiösen und sprachlichen Gruppen, die Sozialstaatlichkeit und der Föderalismus.