Aufbau eines inklusiven Friedens in Syrien – Eine kritische Würdigung des „Exekutiven Rahmens für eine politische Lösung“

Artikel von Prof. Dr. Eva Maria Belser und Dr. Soeren Keil

Übersetzt durch das Team des Genfer Büros des Kurdischen Nationalrats in Syrien

 

Mit der Wiederaufnahme der Kämpfe in vielen Teilen von Syrien ist der Optimismus vergangen, den viele Mitte September hegten, als eine Waffenruhe die meiste Gewalt beendet hatte. Während amerikanische und russische Diplomaten sich über Bombardierungen auf Regierungstruppen und einen UN Konvoi in Syrien streiten, scheint eine Rückkehr an den Verhandlungstisch in absehbarer Zukunft unwahrscheinlich zu sein. Allerdings hat US-Präsident Obama erst kürzlich bekräftigt, dass es keine militärische Beendigung des Konflikts in Syrien geben wird. Stattdessen müssen diplomatische Bemühungen in einer Waffenruhe resultieren, welche die Grundlagen für Friedensverhandlungen und eine neue Nachkriegsordnung in Syrien legt.
Im Lichte dieser Entwicklungen ist es besonders wichtig, dass die Oppositionskräfte in Syrien als Antrieb des Wandels bestehen bleiben und klare Konturen für eine zukünftige politische Ordnung anbieten, die alle Syrer einbezieht und die mit der jahrzehntelangen Diktatur der Baath Partei und des Assad Regimes bricht. Darum ist es entscheidend, dass die Opposition Vorschläge für politische Konzepte formuliert, die grundsätzlich auf Demokratie, Inklusion und einem Bruch mit der Vergangenheit basieren. Die Vision eines inklusiven Staates, in dem alle Syrer sich zuhause fühlen können, ist ein grundlegendes Element von und eine Voraussetzung für Verhandlungen, die wirkliche Hoffnungen auf einen andauernden Frieden wecken. Während eine solche Vorstellung die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft verdient, tut dies jeglicher Plan für eine Nachkriegsordnung in Syrien, welche die Verfehlungen der Vergangenheit fortsetzt, nicht.
Aus diesem Grunde ist es beunruhigend, dass das Hohe Verhandlungskomitee der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte, das die Mehrheit der Gruppen in Opposition zur Regierung umfasst, im September 2016 einen „Exekutiven Rahmen für eine politische Lösung“, basierend auf dem Geneva Communiqué, veröffentlicht hat, welcher den oben erwähnten Fragestellungen nicht Rechnung trägt. Es erscheint unerlässlich, dass Diplomaten und andere in die Bewältigung des syrischen Konflikts involvierte Akteure diesen Mangel thematisieren und diesen Rahmen nicht als Grundparameter für zukünftige Verhandlungen akzeptieren.
Im „Exekutiven Rahmen“ werden insbesondere drei Fragen aufgeworfen, die als hochproblematisch angesehen werden müssen. Erstens wird direkt am Anfang des Dokuments im Abschnitt „Allgemeine Prinzipien“ festgestellt, dass Syrien ein „integral part of the Arab World“ sei und Arabisch die offizielle Sprache des Staates ist. Diese Aussage ignoriert vollständig die Tatsache, dass Syrien in Wirklichkeit ein multiethnisches, multireligiöses und multikulturelles Land ist, wo neben Kurden, auch Jesiden, Christen und andere Gruppen leben, die sich nicht mit der arabischen Kultur identifizieren. Arabisch zur einzigen offiziellen Sprache zu machen und sich auf den Islam als die Religion des Staates zu konzentrieren, ist eine gefährliche politische Richtungsentscheidung. Sie setzt die Vorherrschaft der Mehrheit im Land über die vielen Minderheiten fort und scheitert daran, den Beitrag anzuerkennen, den viele andere ethnische, religiöse und kulturelle Gruppen an der syrischen Kultur und der nationalen Wertschöpfung sowie an dem aktuellen Kampf gegen das Assad-Regime leisten. Wir sind besorgt über diese Passage, weil sie riskiert viele nicht-arabische Syrer von einem zukünftigen syrischen Staat zu entfremden, und somit nicht als Stabilitätsfaktor angesehen werden kann. Während die Punkte 5 bis 7 des gleichen Abschnitts die Existenz anderer Gruppen in Syrien anerkennen, erschweren der Ton des Dokuments und die Bindung an die arabische Kultur insgesamt die Identifikation anderer Gruppen mit diesem Dokument sowie mit dessen Vorschlag für einen zukünftigen syrischen Staat.
Zweitens wird im nächsten Abschnitt des Dokuments, welcher den Übergangsprozess in den Fokus nimmt, unter Punkt 50 verlautbart, dass das „local administration system shall be based on the principle of administrative decentralisation of authorities and responsibilities.“ Als Forscher zu Dezentralisierung und Demokratisierung beschäftigen wir uns besonders mit diesem Absatz. Alle Staaten der Welt nutzen Elemente administrativer Dezentralisierung um sicherzustellen, dass Entscheidungen der zentralen Regierung überall im Land effektiv umgesetzt werden. Jedoch muss es in einem Nachkriegsstaat, wie das zukünftige Syrien einer sein wird, wo eine Ein-Parteien-Diktatur in einer Machtkonzentration und der Unterdrückung bestimmter Gruppen sowie der Zwangsaussiedlung von Menschen und Arabisierungspolitiken mündete, einen klarer Bruch mit der zentralistischen Politik des vergangenen Regimes vollzogen werden. Um Vertrauen zwischen unterschiedlichen Gruppen aufzubauen und das Aufblühen der Demokratie auf allen Ebenen zu gewährleisten, muss die Teilung von Macht ernst genommen werden. Dies bedarf einer Vereinbarung über klare Regelungen zur Machtteilung auf der zentralen Ebene sowie über die Ausgestaltung und die Umsetzung einer wirklichen politischen Dezentralisierung, welche die verschiedenen Gruppen im Land zufriedenstellt. Besonders die Kurden, aber auch viele andere Gruppen, haben unter der Herrschaft der Baath Partei gelitten. Um ihren Schutz und eine gerechte und demokratische Inklusion in einen zukünftigen syrischen Staat zu garantieren, ist es unumgänglich, dass diese Gruppen angemessen am syrischen Staat teilhaben können, gesicherte Rechte interner Selbstbestimmung genießen und über die Kompetenz verfügen, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Die Konzentration auf administrative Dezentralisierung hingegen ist die Ablehnung politischer und finanzieller Autonomie für die unterschiedlichen Regionen Syriens, in denen Minderheitengruppen leben. Im Gegensatz dazu würde das Versprechen einer wirklichen Ordnung der Machtteilung nicht nur allen Gruppen ermöglichen, sich mit einem neuen demokratischen Syrien zu identifizieren und zu dessen Stabilität beizutragen, sondern es würde ebenso sicherstellen, dass alle Konfliktparteien Vertrauen in ihren Staat gewinnen und fähig und gewillt sind, friedlich mit ihren Nachbarn zusammenzuleben. Die Forderungen nach interner Selbstbestimmung zu ignorieren und die Dominanz von Arabern durch die Ausrichtung auf einen zentralisierten Staat fortzusetzen, könnte letztendlich den Boden für neue separatistische Tendenzen bereiten. Das generelle Prinzip, dass Ausschluss zu Gewalt und Abspaltung(sbewegungen) führt, sollte hier bedacht werden. Es gibt viele Beispiele, die zeigen, wie der Ausschluss von bestimmten Gruppen die Grundlage für neue Gewalt und separatistische Bewegungen gelegt hat. Vom Kosovo bis zum Südsudan ist ein klares Muster erkennbar – Ausschluss mündet in Gewalt. Und dieses Muster ist nicht überraschend: Wenn eine Gruppe nicht als Teil der nationalen Kultur betrachtet, sondern marginalisiert und entrechtet wird, wird diese Gruppe über kurz oder lang Interesse an einem eigenen Staat entwickeln. Um ein inklusives, demokratisches und friedliches Nachkriegssyrien aufzubauen, wo die Rechte von verschiedenen kulturellen, religiösen und sprachlichen Gruppen respektiert und geschützt werden, ist es unabdingbar, unterschiedliche Modelle territorialer Autonomie – Föderalismus eingeschlossen – zu erwägen und zu implementieren.
Drittens: Während es im Abschnitt „Allgemeine Prinzipien“ eine Selbstverpflichtung zum Konsensprinzip gibt, erklärt Punkt 11 des gleichen Abschnitts unmissverständlich, dass die Regeln der Entscheidungsfindung durch Konsens bei Entscheidungen, die für spezifische Komponenten der syrischen Gesellschaft gelten, angewendet werden. Falls jedoch ein Konsens nicht erreichbar ist, soll eine Entscheidung durch Zweidrittelmehrheit genügen. (Anm. Übersetzung: „The rules of decision-making by consensus will apply with respect to legislative and executive procedures which pertain to specific components of the Syrian society. In the event consensus is unattainable, a two-thirds majority decision shall suffice”,Executive Framework for a Political Solution, S.11.) Diese Bestimmung ist äußerst problematisch, da sie zum Ausschuss wichtiger Gruppen führen könnte, einschließlich der kurdischen Vertreter. Es ist von höchster Wichtigkeit, dass die Nachkriegsordnung in Syrien im Einklang mit konsensualen und inklusiven Verfahren gestaltet wird. Ein Fokus auf eine Zweidrittelmehrheit könnte zum Ausschluss wichtiger Gruppen führen und riskiert die Friedensverhandlungen negativ zu beeinflussen. Kleine Gruppen werden befürchten, dass ihre Ansprüche, wie legitim sie auch immer seien, nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden müssen. Im Umkehrschluss könnte dies in der Entstehung von „Spoilern“ (Anm. Übersetzung: Spoiler = Akteure, die einen Friedensprozess aktiv unterlaufen, blockieren oder sabotieren) enden und die Grundlagen für einen zukünftigen Konflikt legen. Während verständlicherweise Regeln eingesetzt werden müssen, die absichern, dass Einzelne nicht umfangreiche Entscheidungen blockieren können, sollte dies nicht den Ausschluss von Gruppen bedeuten. Stattdessen sollte ein System der doppelten Mehrheit eingeführt werden, nach welchem alle Entscheidungen sowohl die Mehrheit aller Vertreter des Hohen Verhandlungskomitees als auch die Mehrheit innerhalb jeder dort vertretenen Gruppe benötigen. Eine solche Bestimmung würde gewährleisten, dass einzelne Personen Entscheidungen nicht blockieren können, jedoch alle Gruppen einbezogen und ihre Stimmen gehört werden. Darüber hinaus zwingt dieses System alle Mitglieder des Komitees zusammenzuarbeiten, um einen Konsens zu erreichen, und das jeweilige Gegenüber ernst zu nehmen. Dies wird zur Vertrauensbildung beitragen sowie zu redlichen Verhandlungen.
Ein zukünftiger syrischer Staat muss auf den Prinzipien von Inklusion, Respekt, Vertrauen und Anerkennung der Vielfalt aufgebaut sein. Dies schließt den Bruch mit den undemokratischen Praktiken der Vergangenheit sowie die Grundsteinlegung für einen neuen multiethnischen, multireligiösen Staat, der seine Vielfalt wertschätzt und zelebriert, ein. Inklusivität und Einigkeit müssen die Basis dieses neuen Staates sein. Aus diesen Gründen denken wir, dass der oben diskutierte „Exekutive Rahmen“ nicht den Weg zu dauerhaftem Frieden ebnet. Im Gegenteil, während er einige vernünftige Grundlagen für zukünftige Verhandlungen skizziert, birgt er zugleich die Saat zukünftiger Konflikte in sich.
Wir sind überzeugt, dass diese Probleme angegangen werden müssen. Es steht zu viel auf dem Spiel in den Verhandlungen, zudem ist es wichtig, dass eine Nachkriegsordnung keinen fruchtbaren Boden für neue Konflikte liefert.

 

Prof. Dr. Eva Maria Belser ist Ko-Direktorin des Instituts für Föderalismus an der Universität Fribourg, Schweiz, und Professorin für Verfassungsrecht.
Dr. Soeren Keil ist Dozent für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen an der Canterbury Christ Church Universität.